Bibliografie (Auswahl)

Prolog – Heft für Zeichnung und Text Nr. 21, Struktur(en) und Differenz(en)
Hrsg. Dorit Trebeljahr und Anton Schwarzbach, Berlin 2020

 

Über Grenzen, Eine Verortung des Dazwischen, Ausstellungskatalog
Hrsg. Kulturstiftung Schloss Agathenburg, ISBN 978-3-9816155-9-3, 2019

 

12. Ostrale Biennale, Ausstellungskatalog
Hrsg. Ostrale –Zentrum für zeitgenössische Kunst, ISBN 978-3-9818367-2-1, Dresden 2019

 

Stadt Land Fluss, Ausstellungskatalog, Galerie M
Hrsg. Frauenmuseum Berlin-Netzwerk für Kunst, Berlin 2018

 

Brandenburgischer Kunstpreis 2018, Ausstellungskatalog

Hrsg. Märkische Oderzeitung und Stiftung Schloss Neuhardenberg, ISBN 978-3-9816614-2-2, Neuhardenberg 2018

 

Vom Vergehen-Reflexionen über die Zeitlichkeit, Ausstellungskatalog, Galerie Schwartzsche Villa

Hrsg. Bezirksamt Steglitz-Zehelendorf von Berlin, 2016

 

Augustina träumt in progressius, 27 Positionen aus Kunst und Wissenschaft zu literarischem Text, Ausstellungskatalog

Hrsg. G.A.S.-station Berlin, 2015

 

Intraregionale, Ausstellungskatalog

Hrsg. Frank Nordiek mit Texten von Thomas Kaestle, Hannover 2015

 

Lettering Large, mit msk7

Hrsg: Steven Heller + Mirko Ilic, ISBN 978-1-58093-359-9, USA 2013

 

Mahn oh Mahn, Ausstellungskatalog mit msk7

Hrsg: Inge Mahn, ISBN 978-3-00-026860-1, Berlin 2009

 

Gyeonggi, National Highway No.1, Ausstellungskatalog, mit msk7

Hrsg: Gyeonggi Museum of Art, Südkorea 2008

 

blümerant, Künstlerinnengruppe msk7

mit Texten von Hanne Loreck und Martin Schönfeld, dt/engl., 21 x 21 cm, 36 Seiten, Verlag extra books, ISBN 978-938370-24-7, Berlin 2007

 

Lokale, Ausstellungskatalog

rsg: Inge Mahn, ISBN 3-9805489-5-3, Berlin 2005

Texte

Alexander Klose

Subtile Drastik

Nachrichten. Bilder. Zahlen. Das sind die drei Elemente, aus denen sich Wirklichkeit heute im Wesentlichen zusammensetzt. Alle drei pflegen enge, wechselseitige Beziehungen untereinander, aber nur ganz gelockerte – oder jedenfalls ganz andere als repräsentative – zu den Realitäten, die wiederzugeben sie nicht aufhören zu behaupten. Alle drei erzeugen Wirklichkeit mehr als dass sie sie wiedergeben. Anja Sonnenburgs künstlerische Arbeiten reagieren auf diese Herrschaft eines hyperrealistischen Dreigestirns mit subversiver Aneignung der Formen der Repräsentation durch dezente formale und radikale inhaltliche Verschiebungen. 

 

Rauschen der Affekte

Der Wert von Nachrichten und Bildern als Leitwährungen heutiger Kommunikation zahlt sich aus in Zuständen der Erregung: Emotion, Agitation, Erektion, Ejakulation. Tag für Tag, Stunde für Stunde, oder gar – im Twitter-Takt – Minute für Minute. Leicht stellt sich eine gewisse Ermüdung ein. Dann verwandelt sich die Masse der Affekt-Dosen zu bloßem Rauschen, kognitiv und emotional nicht mehr verarbeitbar.

 

Mit ihrer Arbeit „Schlagzeilen“ stellt sich Anja Sonnenburg ein Jahr lang dieser Ermüdung entgegen: Täglich auf- und überschreibt sie die aktuellen Nachrichten des Online-Portals der Tagesschau auf die immer gleiche 160 mal 120 cm große Leinwand. Nichts geht verloren, keine Nachricht bleibt ungewürdigt, kein Affekt ungefühlt. Die Leinwand – „screen“ im Englischen, wie der Bildschirm – bekommt durch diese Operation eine historische Tiefe, wie sie die Fernseh- (oder Computer-)Monitore, auf denen die Nachrichten eigentlich erscheinen, aufgrund ihrer technischen und ideologischen Verpflichtung auf die Gegenwart niemals erreichen können. Sie wird zum Palimpsest – allerdings zu dem Preis der Unlesbarkeit.

 

Abgrund der Zahlen

Als binärer Code in Computerprogrammen und –modellen ebenso wie als die Zahlenbilder der  visualisierten Statistiken etwa der Wirtschaft und der Sozialtechnik generieren Zahlen  Realitäten. Obwohl Wirklichkeiten zweiter Ordnung, besitzen sie einen höheren Wirksamkeits- und damit Wirklichkeitsgrad als das empirische Material, auf dem sie (vermeintlich) basieren. Mit den reduktiven und dabei hochverfeinerten Formgebungen ihrer Zahlenarbeiten scheint Anja Sonnenburg das allgegenwärtige Spiel der Zahlenbilder und Infografiken auf die ästhetische Spitze zu treiben. So wählt sie etwa bei „Syria Tracker“ (2013) goldfarbene Stecker, um einzelne Ereignisse zu signifizieren.  Bei „Boatpeople“ (2011) sind es 10.000 rote Klebepunkte, bei „IBC07“ (2008) 20.000 Glaskugeln.

 

Die erklärenden Untertitel ihrer Arbeiten weisen jedoch in eine gänzlich andere Richtung als deren Form evoziert. In sachlicher, distanzierender Sprache informieren sie darüber, dass jede einzelne grafische Operation für einen verfolgten, geschundenen, eingesperrten, misshandelten, getöteten Menschen steht. Die durch die sonst in der Nachrichtenwelt üblichen, standardisierten Zahlenreihen und Verteilungsdiagramme – wenn auch mühsam – gebändigten Ereignisse drängen sich in Anja Sonnenburg Arbeiten aufgrund der maximalen Fallhöhe zwischen schönen Verteilungen und den ihnen zu Grunde liegenden, grausamen Ereignissen in aller Brutalität in die Imagination. Was die Bilder „erster Ordnung“ der Spektakelkultur in der Regel nicht vermögen – ihre Betrachter durch die elaborierten Deflektoren der Schockabwehr hindurch zu beunruhigen – gelingt dem körperlosen Splatter der Zahlenbilder Anja Sonnenburgs – genau weil sie keine Bilder der Ereignisse zeigen.

 

Strafarbeit

Das Skandalon referenzloser Zahlen-, Bilder- und Nachrichtenrealitäten ist nicht neu. So stellt etwa Robert Musil in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ über die Jahre unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg zwei komplementäre Aneignungsformen der Realität gegeneinander: eine „pedantische“ und eine „phantastische Genauigkeit“. Letztere zielte auf neue Möglichkeitsräume, indem sie die Wirklichkeit ent-gründete. Erstere positioniert sich – als widerständiger, individueller Reflex und zugleich zwanghafte Wiederholung des bürokratisierten Ordnungsglaubens im späten Habsburgischen Reich – gegen den neuen Geist des „Möglichkeitssinns“ und führt die persönliche Moral wieder ins Spiel ein. In der heutigen, digitalen Kultur hat sich das Verhältnis der beiden umgekehrt: Die phantastische Genauigkeit der operationalen Spekulation und Simulation wurde zum vorherrschenden Weltzugang, während pedantische Genauigkeit dramatisch an Wert verlor. 

 

Als eigenbrötlerische Haltung von Spinnern und Besessenen ist sie aber auch zu einem potentiell subversiven Möglichkeitsraum für künstlerisches Tun geworden. Anja Sonnenburg bezeichnet „Strafarbeit“ (2009) als Schlüsselwerk für ihre in diesem Katalog versammelten Zahlen- und Ereignis-Arbeiten: Mit der „Zählung einer nicht definierten Größe“ durch einfache Zählstrichzeichen füllt sie eine Leinwand in der Art eines Schulheftes oder einer Gefängnismauer, bis diese restlos gefüllt sind. In anderen Arbeiten überträgt sie dieses Produktionsprinzip auf empirische Sachverhalte, um z.B. herauszufinden „wie lange es dauert, 50.000 Tote zu zählen“ („Syria Tracker“).

 

Indem die Künstlerin, im wahrsten Sinne des Wortes, händisch jedes einzelne, konkrete Ereignis als abstraktes Element im Bildraum verzeichnet, dreht sie den für die phantastische Genauigkeit konstitutiven Vorgang des Auseinanderfallens von Bild bzw. Zahl und Ereignis um. Ihre pedantisch genaue Arbeit ist eine Form der Selbstvergewisserung und der subjektiven, empathischen Aneignung des abstrakten, übergroßen Schreckens, mit dem wir tagtäglich konfrontiert werden. 

 

Politischer Minimalismus

Ein Bild, so lautet das zentrale Vermächtnis der zwischen den Weltkriegen grundgelegten Bild-Pädagogik und Info-Grafik, müsse „auf den ersten Blick das Wichtigste am Gegenstand“ zeigen. Mit ihrer klaren grafischen Organisation des Bildraums scheint Anja Sonnenburg diesem Diktum zu folgen. Dies kann, ebenso wie die sachliche Wiederholung gesellschaftlicher (soziotechnischer) Realitäten im Galerieraum, als eine Herangehensweise im Geiste des Minimalismus interpretiert werden. „Keine Rhetorik, keine Sinnlichkeit, kein Rückgriff auf »erschöpfte« Konventionen wie zum Beispiel kompositionelle Hierarchien – nur Fakten.“ So fasst der Kunstkritiker Eric Gibson rückblickend die kanonische Auffassung der minimalistischen Kunst und deren formalistischer Radikalität zusammen. Und ergänzt, „diese Fakten waren stets ästhetischer Art.“ 

 

Die Frage, ob und auf welche Weise der Minimalismus der 1960er-Jahre politisch agierte, ist eine vieldiskutierte, kunsthistorische Frage. Was den Minimalismus Anja Sonnenburgs gesellschaftlich engagiert und somit politisch macht, ist dass ihre Fakten nicht nur explizit nicht ästhetischer Art sind, sondern dass sie sie aus den finstersten Winkeln des aktuellen Weltgeschehens (und aus den eher weniger besuchten Informationsnischen des Internet) kehrt. Auf anmutige Weise konfrontiert sie uns mit den Abgründen der menschlichen Kultur. Wenn es heute darum geht, gegen die „Lichtmächte“ der Medien und Museen kluge und kritische Bildpraktiken zu entwickeln, dann gehören Anja Sonnenburgs drastische Zahlenbilder zu dieser dringend notwendigen, neuen Gattung emanzipativer Bilder, weil sie gleichzeitig den Abgrund zum Realen öffnen und sichtbar machen, wie der Blick zu diesem Realen heute auf höchst kulturell verfeinerte Weise verstellt ist.

Thomas Kaestle

In der großen Hitze 

Kartographie ist immer auch ein wenig Fiktion. Eine gute Karte macht verdichtete Informationen ablesbar, abstrahiert Zusammenhänge in der Draufsicht. Andererseits erzählt sie dem, der ihr Zeichnungssystem lesen kann, Geschichten über Hintergründe und Voraussetzungen. Anja Sonnenburg aus Berlin arbeitet in ihrer Kunst häufig mit Statistiken und deren Visualisierung, mit Zeichen-, Sprach- und Datensystemen. In ihrer Installation Warmfront geht es um das Klima und dessen Auswertung, Aufzeichnung und Darstellung. In Zeiten eines beängstigend schnell voranschreitenden Klimawandels lassen starke Schwankungen gerade in einem Agrarland wie Niedersachsen gravierende Konsequenzen erahnen.

 

Im idyllischen Park des Herrmanshofs erzählt die Künstlerin vom heißesten Tag in Deutschland seit dem Beginn der Wetteraufzeichnung. Sie überträgt die Wetterkarte dieses 5.Juli 2015 mit weißer Schnur, milchigem Acrylglas und weiß lackiertem Styropor auf eine geschützte Wiese, auf der die Welt noch in Ordnung erscheint. Zwischen Hochs und Tiefs, Kalt-und Warmfronten, Temperaturzahlen, Windrichtungen und Tendenzen wird Hitze ablesbar, als sichtbar gewordene Erinnerung und mahnende Erzählung. Dass das Wetter dabei auf den ersten Blick mit einer topografischen Landkarte verwechselt werden kann, zeigt, wie wesentlich die Fähigkeit, abstrakte Informationen deuten zu können, geworden ist.